Wenn wir uns damit beschäftigen, wie wir wieder gesund werden können, dann kommen wir nicht umhin sowohl zurückzublicken, als uns auch Gedanken über unsere aktuelle Umgebung zu machen.
Chronische Erkrankungen entstehen nicht über Nacht und es macht Sinn zu reflektieren, was für ein Leben du eigentlich vor dem endgültigen Ausbruch geführt hast und somit in welcher Umgebung sich dein Nervensystem befunden hat.
Erforsche für dich gerne folgende Fragen:
Wenn die äußeren Umstände der letzten Jahre eine Landschaft wäre, wie würde diese Landschaft aussehen?
Welche Eigenschaften hatte diese äußere Umgebung in der du dich aufgehalten hast?
Was davon war nährend?
Was davon war stressig/belastend/erschöpfend/beängstigend?
Auf einer Skala von 1-10 (10 ist am Stärksten) wieviel Zeit hast du dich in der nährende Umgebung aufgehalten und wieviel in der Anstrengende?
Hast du versucht zu funktionieren und bist über deine Grenzen und Bedürfnisse gegangen?
Warum?
Welche Anteile waren daran beteiligt und was war ihre Motivation?
Meine persönliche äußere Umgebung der letzten Jahre war zwar auf der einen Seite sehr spannend, aufregend und frei, auf der anderen Seite hat mich der Schritt in die Selbstständigkeit mit unzähligen Ängsten und Existenzsorgen gefordert. Dazu kam Liebeskummer, Selbstzweifel und eine Retraumatisierung in 2019 die etwas ganz Altes aufgerissen und sehr viel Energie von mir gewollt hat. Das bedeutet, obwohl ich wirklich in vielen Bereichen endlich das Leben führen konnte, was ich mir vorgestellt hat (speziell was das Leben in meinem eigenen Rhythmus betrifft) war die Menge an Stressoren (akute, alte und durchgehende) wesentlich größer.
Als mich Long Covid wirklich ausgeknockt hat und ich nicht mehr arbeiten konnte, drehte sich das völlig um. Ich versuchte mich nur noch in Umgebungen aufzuhalten, die mir keinen Schaden zufügten (also Leben in der Baseline) und alles was „mehr“ war, war schon zu viel. Ich zog mich extrem aus äußeren, fremdbestimmten Umgebungen zurück und baute mir ein Leben nur für mich. Ein sicheres Nest, indem mein System beginnen konnte ansatzweise runterzufahren. Denn was ich schnell verstand war, dass es mir um so besser ging, um so weniger ich im außen funktionieren musste und um so weniger ich mit Menschen zu tun hatte. Das klingt jetzt vielleicht hart, aber als Mensch mit einem hypersensiblen Nervensystem (schon immer) und einer 13jährigen Geschichte als Erzieherin waren Menschen für mein System der ultimative Trigger und sie sind in Kombination mit Reizen bis heute meine "Endgegner" ;)
Ich kreierte mir also mit der Zeit meine eigene kleine Bubble.
Natur, Katze, lesen, Animes, Sprachnachrichten um Kontakte zu halten, schlafen wann immer mein Körper es brauchte, Musik hören, sanftes Movement, schreiben – ganz ehrlich damit kann ich meinen Tag füllen und gehe abends zufrieden ins Bett. Ich erschuf mir eine sichere Umgebung in der mein System anfangen konnte sich zu entspannen und sich ganz langsam regenerierte.
Und ja, ich bin Single und lebe allein mit meiner Katze – ich habe also ganz gute Voraussetzungen im Gegensatz zu Menschen die z.B. Kinder haben, weil ich nur auf mich achten kann. Nicht zu unterschätzen ist in dem Kontext der Aspekt der zwangsläufigen Einsamkeit, der emotional sehr hart ist und ich brauchte ein paar Monate, um damit stabil zurecht zu kommen. Es hat alles seine Vor- und Nachteile.
Erforsche für dich gerne folgende Fragen:
Was brauchst du um dich im Moment sicher in deinem Tag zu fühlen?
Wie fühlt sich dein aktuelles Nest an? Was kannst du noch weiter für dich verändern?
Was löst in dir aktuell Stress aus? Kannst du etwas davon verändern/delegieren?
Für mich persönlich war z.B. einer der krassesten Schritt zu entscheiden, dass ich nicht mehr arbeiten konnte und somit die Beantragung von Bürgergeld.
Jetzt besteht die Welt leider nicht nur aus meiner kleinen sicheren Bubble, denn irgendwann will ich wieder ein gesundes Leben führen und somit auch mein eigenes Geld verdienen, mich ohne Angst mit Freunden und Familie treffen und mich darauf verlassen können, dass mein Körper in der Lage ist unerwartete stressige Situationen zu meistern.
Das bedeutet ab einem bestimmten Punkt in der Genesungsreise geht es darum wieder kleine Schritte aus der Bubble/dem Nest zu machen. Wir werden nicht gesund wenn wir uns ausschließlich in der Baseline bewegen, aber wir brauchen die Baseline um die Basis für die weitere Genesung zu legen. Unser Körper ist ursprünglich dafür designed Stress verarbeiten zu können, und mit chronischen Krankheiten gilt es dass wieder wie ein Baby von vorne zu lernen.
Aus dem sicheren und stabilen kleinen Nest in dem wir irgendwann wissen, dass unser System sich entspannen und regenerieren kann (und das braucht Zeit!) können wir es wagen, kleine Babysteps hinaus ins Leben zu machen.
Du kennst vielleicht dieses Gefühl, wenn du nach einem Crash zum ersten Mal wieder raus gehst und du dich wie ein staunendes Kleinkind fühlst, was die Welt für sich entdeckt. Mit der Energie dürfen wir uns ans Erforschen der Umgebung außerhalb der Baseline machen (sofern die Baseline stabil ist).
Erforsche für dich gerne folgende Fragen:
Hast du eine Baseline?
Was wäre ein erster, kleiner Schritt hinaus der dir nicht zu viel Angst macht, sondern sich eher wie eine kleine Minitrainingseinheit anfühlt? (Du kannst das vorbereiten und nachbereiten mit Brainretraining und Regulationsübunen).
Was brauchst du, um dich möglichst sicher dabei zu fühlen?
Für mich bedeutete das Folgendes:
Ich shiftete in meinem Kopf die Angst vor allen möglichen Situationen zu Trainingsmöglichkeiten!
Wichtig ist, dass ich auf gute Bedingungen achte!
Ich trainierte z.B. wieder in die Stadt zu gehen (früher Horror weil Reize) und begann erstmal damit einfach durch kleine Seitenstraßen zu gehen, oder in 2 bestimmte Läden und danach in die Kirche, um dort mein Nervensystem wieder zu regulieren.
Ich begann zu üben im Café zu sitzen (Horror wegen Reizen) aber alleine und zu Zeiten in denen nicht so viel los war – so dass mein System auch Erfolgserlebnisse hatte und wieder eine positive Verknüpfung mit Café aufbauen konnte.
Ich übe mich wieder mehr mit Menschen zu verabreden, aber in ruhigen Umgebungen und sie müssen zu mir kommen, damit ich nicht den Weg als zusätzlichen Stressor habe.
Ich übe mich beim Movement aktivierender zu bewegen und reguliere danach mein Nervensystem, mache Mittagsschlaf und versorge mich mit genügend Proteinen.
So können wir in kleinen Schritten wieder üben ein bisschen mehr Leben auszuhalten und Kapazität dafür aufzubauen. Ein reguliertes Nervensystem muss keinen Stress vermeiden, sondern kann sich nach einer stressigen Situation wieder (von selbst) regulieren.
Wir müssen das erstmal wieder proaktiv lernen, üben, integrieren und das braucht Zeit.
Für ein langfristig gesundes Leben bedeutet das in seiner Konsequenz, dass es darum gehen wird im Genesungsprozess nicht wieder in die alten Muster zu fallen. Am Anfang wünschen wir uns oft, dass es so wird wie früher und wir wieder die „Alte“ werden wollen. Das ist meiner Meinung nach ein absoluter Trugschluss.
Heilung geschieht auch dadurch, dass wir unsere eigenen schädlichen Mechanismen erkennen (z.B. durch Anteile Arbeit) sie beginnen aufzulösen und in der Lage sind ein Leben zu kreieren, was uns nicht in das alte Hamsterrad zurück katapultiert. Genau dafür braucht es Regulationsfähigkeit, um nicht den Kopf zu verlieren, sondern wach zu bleiben für sich selbst.
Auf dem Genesungsweg zu sein bedeutet für mich auch anzufangen endlich ehrlich zu mir selbst zu werden. Da entstehen die spannendsten Prozesse.
Zusammenfassend lässt sic also sagen, dass uns eine chronische Krankheit eigentlich dazu zwingt unsere Baseline zu finden (und die ist am Anfang erschreckend klein und vielleicht hatten wir die unser ganzes Leben nie), wir üben uns darin aufzuhalten, darin Erholung und Stabilität finden und dann geht es darum die Baseline in Babsysteps auszuweiten um die Kapazität des Nervensystem zu erweitern.
Am Ende geht es darum, dass wir uns ein Leben gestalten was uns selbst entspricht und nicht aus einem dysregulierten Nervensystem heraus aus Not und Stress gelebt wird. Wir müssen also auch herausfinden wer wir wirklich sind und was wir wirklich wollen und brauchen. Und wir dürfen erforschen wie wir Kraft, Ruhe und Freude finden, wie unser individuelles Nervensystem funktioniert und aufgestellt ist und was es braucht um sich besser regulieren zu können.
Disclaimer: Das sind meine persönlichen Erfahrungen und Erkenntnisse und jeder Leser/Leserin ist für sich selbst verantwortlich.
Liebe Verena, du hast so gut ausgedrückt und zusammengefasst, wie ich mich mit meinem PostVac seit 2 Jahren fühle. Das hier so zu lesen gibt mir eine riesen Bestätigung, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Alle wollen immer wissen, bei welchen Ärzt*innen ich war und welche Behandlungen ich schon probiert habe. Und bemessen danach, ob ich " genug" für meine Genesung tue. Ich habe mich da komplett raus gezogen und mache viel innere Arbeit und kümmere mich um mein Nervensystem. Genau so wie du es beschreibst. Das macht mir so viel Mut, noch besser meine Baseline/ meine Bedürfnisse erfüllen zu lernen und es macht mir Mut, dass es irgendwann auch wieder bergauf geht. Danke für deinen Artikel!